Malerei des 19. Jahrhunderts: Wahrnehmung und Gestaltung der Farbe

Malerei des 19. Jahrhunderts: Wahrnehmung und Gestaltung der Farbe
Malerei des 19. Jahrhunderts: Wahrnehmung und Gestaltung der Farbe
 
Die Malerei der Neuzeit war eine Kunst der Hell-Dunkel-Gestaltung. Vom 16. bis zum 18. Jahrhundert wurde sie in unterschiedlichen Erscheinungsformen von einer »luminaristischen« Farbe bestimmt - einer Farbe, die sich im Spannungsbogen zwischen unfarbigem Dunkel und unfarbigem Licht entfaltet. Im 19. Jahrhundert verwandelte sich dieses Prinzip entscheidend: An die Stelle einer Hell-Dunkel-Farbe trat eine rein farbige, eine »koloristische« Farbe. Dieser Prozess kann als »Befreiung der Bildfarbe« verstanden werden, und damit als Voraussetzung für die endgültige, vor allem mit der Abstraktion verbundene Freisetzung der Farbe in der Malerei des 20. Jahrhunderts. Freilich erschöpfte sich die Malerei des 19. Jahrhunderts als Kunst der Farbe nicht in solcher Vorläuferschaft. Eine neue Erfahrung der Wirklichkeit war Ursache dieser Veränderung. Ihren Ausdruck fand sie in der Freilichtmalerei.
 
Aber kann Malerei in der Farbe wirklich »realistisch«, »naturalistisch« werden? Wie verhält sich die Bildfarbe zum Licht der Sonne? »Die Natur habe ich kopieren wollen, es gelang mir nicht«, erkannte Paul Cézanne, »aber ich war zufrieden, als ich entdeckt hatte, dass die Sonne zum Beispiel sich nicht darstellen ließ, sondern dass man sie repräsentieren musste durch etwas anderes,. .. durch die Farbe«. Jeder Künstler, der im Freien malte, musste auf seine Weise eine Umsetzung des nicht darstellbaren Sonnenlichtes in Farben vollziehen.
 
Geschehen konnte dies durch die Aufhellung der Bildfarben und ihre Vermischung mit Weiß. William Turner war der Erste, der Weiß einen besonderen Rang in seiner Koloristik einräumte. Im Weiß verdichtete sich ihm die Helle des Lichtes; Weiß war ihm »substitute of light«, »Ersatz des Lichtes«. Aber Weiß wurde ihm auch zum Element seiner neuen Farbordnung: In manchen seiner Aquarelle treten Grau- und Gelb-, Ocker- und Violett-Braun-Töne aus dem umfassenden Weiß des Bildgrundes hervor.
 
Eine andere Weise, Licht und Farbe zu repräsentieren, bot die Valeurgestaltung. Nach der Definition des französischen Schriftstellers und Malers Eugène Fromentin bezeichnet der Begriff »Valeur« die »Quantität an hell und dunkel, die in einem Ton enthalten ist«. Diesen Weg beschritt Camille Corot, indem er die Farben seiner Bilder genau ihren Helligkeitsstufen gemäß einsetzte und die Buntwerte subtil auf Grau- oder Ockertöne abstimmte. Cézanne selbst fand in einer konsequenten Farbabstufung das Verfahren, Licht durch Farbe zu repräsentieren. Doch gerade seine Kunst zeigt, dass die Freilichtmalerei nur einer der möglichen Ausgangspunkte für die neue Farbgestaltung im 19. Jahrhundert war. Denn Wahrnehmung der Farbe bedeutet nicht allein Wahrnehmung der Farben der Natur, sondern in gleichem Maße auch Wahrnehmung der Bildfarben. Indem ein Künstler letztere bewusst wahrnahm, mussten sich ihm neue Fragen farbiger Bildkomposition stellen, die mit Naturnachahmung gerade nicht zu lösen waren. Welche Wahrnehmung von Farbe stand aber zur Diskussion? Die Wahrnehmung, die auf die mit naturwissenschaftlichen Methoden messbare Gesetzlichkeit der Farbe ausgerichtet ist, unterscheidet sich grundsätzlich von der Wahrnehmung und Erfahrung der psychischen Kräfte der Farbe. Gerade der Erkundung der farbigen Ausdruckskraft aber widmeten sich viele Maler des 19. Jahrhunderts.
 
Goethe bezeichnete diese Kräfte als die »sinnlich-sittlichen Wirkungen der Farbe«. Philipp Otto Runge, der mit Goethe über Probleme der Farbenordnung korrespondierte, entwickelte ein dreidimensionales Modell, eine »Farbenkugel«, um dem »Verhältnis aller Mischungen der Farben zueinander« auf die Spur zu kommen. Doch schon in einem Brief vom 7. November 1802 wird seine symbolische Auffassung der Farben deutlich: »Die Farbe ist die lezte Kunst und die uns noch immer mystisch ist und bleiben muss, die wir auf eine wunderlich ahnende Weise wieder nur in den Blumen verstehen. Es liegt in ihnen das ganze Symbol der Dreyeinigkeit zum Grunde: Licht oder weiss, und Finsternis, oder schwarz, sind keine Farben, das Licht ist das Gute, und die Finsternis ist das Böse (ich beziehe mich wieder auf die Schöpfung); das Licht ist die Sonne, die wir nicht ansehen können, aber wenn sie sich zur Erde, oder zum Menschen neigt, wird der Himmel roth. Blau hält uns in einer gewissen Ehrfurcht, das ist der Vater, und roth ist ordentlich der Mittler zwischen Erde und Himmel; wenn beyde verschwinden, so kommt in der Nacht das Feuer, das ist das Gelbe und der Tröster, der uns gesandt wird - auch der Mond ist nur gelb«.
 
Die französischen Romantiker orientierten sich dagegen stärker an der sinnlich erfahrbaren Wirklichkeit. Wie bei keinem anderen Maler des 19. Jahrhunderts durchdringen sich bei Eugène Delacroix das Nachdenken über Probleme der Farbgesetzlichkeit und der Farbgestaltung einerseits und deren künstlerischer Verwirklichung andererseits. Seine Tagebücher enthalten zahlreiche farbtheoretische Reflexionen und Beobachtungen farbiger Phänomene. Neben sein »Farbendreieck« von 1832 notierte Delacroix Wahrnehmungen über komplementärfarbige Schatten. Später unterschied er Kontrastbeziehungen zwischen Licht und Schatten, Mittelfarbe und Reflex. In einer Aufzeichnung vom 7. September 1856 heißt es: »Ich sehe von meinem Fenster aus einen Parkettleger, der, bis zum Gürtel nackt, in der offenen Galerie arbeitet. Ich bemerke, indem ich seine Farbe mit der äußeren Mauer vergleiche, wie starkfarbig die Mittelfarben seines Fleisches im Vergleich zu den leblosen Massen sind. Ich habe dasselbe vorgestern auf der Place Saint-Sulpice beobachtet, wo ein Junge in der Sonne auf eine Statue des Brunnens gestiegen war: mattes Orange in den hellen Partien, die lebhaftesten Violetts als Übergang zum Schatten und goldene Reflexe in den Schatten, die der Sonne entgegenstanden. Das Orange und das Violett herrschten abwechselnd vor und mischten sich. Der goldene Ton enthielt Grün. Das Fleisch hat seine wahre Farbe nur in der freien Luft und besonders in der Sonne«.
 
Lässt so erst die Sonne die Fülle farbiger Schatten und Reflexe hervortreten, so mindert sie durch ihre Strahlkraft aber auch die Farbwirkung. Deshalb soll ein Maler, wie eine Eintragung in Delacroix' Tagebuch vom 5. Mai 1852 empfiehlt, »sein Bild so anlegen, als zeige sich sein Gegenstand bei bedecktem Himmel ohne Sonne, ohne ausgeprägte Schatten. Es gibt grundsätzlich weder Helligkeiten noch Dunkelheiten. Es gibt für jeden Gegenstand eine farbige Masse, die von allen Seiten verschiedenartig reflektiert wird«. Eine Notiz vom 29. April 1854 ergänzt diesen Gedanken: »Je mehr ich über die Farbe nachdenke, desto mehr entdecke ich, dass der reflektierte Halbton das Prinzip ist, das herrschen muss.. .. Das Licht. .. ist nur etwas zufällig Hinzukommendes«. Eine solche Aufteilung der Farbe wurde bei Delacroix zur Grundlage einer unauflöslichen Verkettung der Farben, welche die Farbharmonie entstehen lässt.
 
Auf diesen Vorstellungen baute Cézanne auf. Seine Äußerungen zur Farbe finden sich in späten Briefen oder wurden von Besuchern überliefert. Als Leitsatz für Cézannes künstlerisches Schaffen kann gelten, was er 1903 in einem Brief formulierte: »Alles ist, besonders in der Kunst, Theorie, entwickelt und angewandt im Kontakt mit der Natur«. In dieser Zweiteilung von »Theorie« und »Natur« aber galt ihm die »Natur« als das Begründende. So schrieb er 1904, er wolle »nicht theoretisch recht haben, sondern angesichts der Natur.« Vor der »Natur«, vor dem »Motiv« formulierte Cézanne die Aussagen seiner Werke: »Der Schatten ist eine Farbe wie das Licht, doch ist er weniger leuchtend. Licht und Schatten sind lediglich ein Verhältnis zweier Farbtöne«.
 
Diese Feststellung belegt die eingangs erwähnte Umsetzung des Sonnenlichts in Farben, aber auch die Umsetzung der Modellierung von Körpern durch Farben. Denn Cézanne wollte - im Gegensatz zu den Impressionisten - die Bilddinge in ihrer Körperlichkeit bewahren. Dies betrifft besonders die Konturgestaltung: »Zeichnung und Farbe sind niemals scharf getrennt. Im selben Grade wie man malt, zeichnet man. Je harmonischer die Farbe wird, desto bestimmter wird die Zeichnung. Wenn die Farbe den höchsten Reichtum zeigt, zeigt die Form die größte Fülle. Der Kontrast und die Beziehungen der Farbtöne: Darin liegt das Geheimnis der Zeichnung und der Modellierung. Wenn die Töne harmonisch nebeneinander stehen und lückenlos vorhanden sind, modelliert sich das Bild von selbst. Man sollte nicht sagen modellieren, man sollte sagen modulieren«. Gleichermaßen wird bei Cézanne auch der Bildraum in Farbstufungen übersetzt, ist er doch erfüllt vom »umhüllenden Reflex«, der »Umhüllung«, den reflektierten Halbtöne in der Terminologie Delacroix'. Cézannes Farbgestaltung bildete dann die Grundlage der konstruktiven Farbe bei Robert Delaunay, August Macke und Paul Klee. Die Farbe der Expressionisten gründete dagegen im starkfarbigen, symbolbeladenen Kolorit Vincent van Goghs und in den weicheren Farbklängen Gauguins.
 
Prof. Dr. Lorenz Dittmann
 
 
Dittmann, Lorenz: Farbgestaltung und Farbtheorie in der abendländischen Malerei. Eine Einführung. Darmstadt 1987.
 Hofmann, Werner: Das irdische Paradies. Motive und Ideen des 19. Jahrhunderts. München 31991.

Universal-Lexikon. 2012.

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